Bunte Stoffahnen flattern im Wind. Sandalensohlen knirschen im Schotter, gefolgt von Lachen und dem Klingen von Weingläsern. Ein gelber Luftballon weht neben einer offenen Tür, durch die ich eine Kaffeebar aus hellem Holz erkennen kann. Das Wiesenviertel in Witten ist noch relativ jung. Wer eine laute Partymeile oder die angesagtesten Kunstgalerien sucht, ist hier falsch. Doch genau das macht das Wittener Szeneviertel für mich charmant: Für ein paar Stunden in einem Plüschsessel-Café sitzen und lesen, durch den Unverpackt-Laden flanieren, Schokolade und Marshmallows shoppen, über Urban Gardening lernen, Jazz im Hinterhof lauschen, Menschen treffen und einfach mal genießen. Ich nehme dich mit auf einen Spaziergang durch ein Viertel voller Überraschungen – klein und herzlich, mit viel Engagement aufgebaut und immer noch am Wachsen, wie die Kräuter im gemeinschaftlichen Gemüsebeet.
Das Wiesenviertel direkt am Wittener Hauptbahnhof
Ich drehe keine Runden schon seit Stunden wie Herbert Grönemeyer, der in seinem Song auf der Suche nach einem Parkplatz ist. Denn das Wiesenviertel liegt nur wenige Meter vom Wittener Hauptbahnhof entfernt. Praktisch. Vom Bahnhofsgebäude aus mache ich mich auf die Suche nach einem morgendlichen Kaffee oder Tee. Schon nach wenigen Minuten bin ich an einem Marktplatz. Die Straßenbahn klingelt vorbei, ein Brunnen plätschert und am Cafe Extrablatt plaudern Menschen unter Sonnenschirmen.
Marshmallow-Wunderland im Sweety Shop
Da das Wiesenviertel an sich recht klein ist, möchte ich auch die Umgebung erkunden. Also wandere ich die belebte Bahnhofstraße hinauf. Obwohl ich ja eigentlich einen Tee trinken wollte, zieht mich um die Ecke herum auf einmal mysteriöser Weise das bunte Schaufenster des Sweety Shops an. Schokoladenkäfer, Tortendeko und Bonbons. Mmmmh! Drinnen steht Barbara Vahle hinter der Theke. Sie hat nicht nur Vanilletrüffel und originale Wittener Stadtpralinen in ihrem Lädchen, sondern stellt auf Wunsch so ziemlich jede Kreation aus Marshmallows – oder Mäusespeck – her. Ein Marshmallow-Auto zum Führerschein, ein Marshmallow-Pärchen zur Hochzeit, Marshmallow-Hunde oder Marshmallow-Fußballspieler.
Die Figuren baut sie, wenn gerade keine Kunden im Laden sind. „Mir macht das Spaß“, erklärt die 65-Jährige fröhlich. „Wissen Sie, ich könnte natürlich auch als Rentnerin zu Hause sitzen, die Füße hochlegen und keinen Spaß haben. Aber da bin ich lieber hier und habe Spaß.“ Pragmatisch und sympathisch! Obwohl ich in großer Versuchung bin, den ganzen Laden zu leerzukaufen, bin ich kurz darauf wieder draußen, auf der Suche nach meinem Kaffee und Tee.
Unverpackt einkaufen in der Füllbar
Weit komme ich allerdings auch dieses Mal nicht, denn gegenüber sehe ich ein Schieferschild mit der Aufschrift „Füllbar“. Den Unverpacktladen gibt es seit 2017. Gegründet haben ihn mehrheitlich Studierende der Universität Witten/Herdecke. Für weniger Plastikmüll und faireren Handel.
Drinnen riecht es nach Holz, Korn und Gemüse. Ich stöbere durch das Sortiment und finde, dass man so gut wie alles abfüllen kann. Reis, Nudeln, Kräuter, Nüsse, Salz, Soßen, Säfte, Seifen. Der Laden ist hell und warm und macht richtig Lust, sich umzusehen – selbst wenn man vielleicht noch nie in einem Unverpackt-Store war. In einer Ecke gibt es Trinkbecher und Zahnbürsten aus Bambus, in einer anderen Ecke nachhaltige Kleidung von ettics. „Uns ist klar, dass wir nicht die Welt retten. Trotzdem glauben wir daran, dass wir einen Beitrag leisten können zu einer lebenswerteren Welt“, erklärt das Team. Auch wenn die Füllbar zum Randgebiet des Wiesenviertels gehört, finde ich, dass sie und ihr Konzept definitiv einen Besuch wert sind.
Retro-schick im Café Leye
Was ist denn nun mit meinem Tee oder Kaffee? Ich stehe draußen vor einem Baum, an dem bunte Stofffahnen im Wind wehen. Da die Nachbarschaft rund um das Wiesenviertel leider aktuell noch mehr große Handelsketten als kultige Lädchen hat, bleibe ich besonders an den kleinen Geschäften hängen, die etwas Besonderes anbieten.
Barbara Vahle vom Sweety Shop hat mir einen Tipp gegeben – für das Café Leye. Ich suche und laufe dreimal daran vorbei. Versteckt in einem engen Hauseingang an der Bahnhofstraße finde ich es. Pink-orangefarbenes Licht strömt durch den Flur. An der Bar leuchten mir verheißungsvoll dunkelrote und violette Obstkuchenstücke entgegen. Die Kaffeemaschine zischt. Eine elegante Wendeltreppe führt ins Obergeschoss.
Blick ins Wiesenviertel von der Sonnenterrasse
Ich bestelle beim netten Team ein Stück Kuchen mit einer großen Brombeere und einen langersehnten Blüten-Tee. Dann setze ich mich in der oberen Etage in einen der gemütlichen Vintage-Plüschsessel. Klassische Musik im Hintergrund, ein Tee-Kännchen auf dem Holztisch, orange Tischlampen entlang des Geländers und ein roter Theatervorhang geben mir das Gefühl, nicht nur in der Zeit gereist zu sein, sondern in ein Kaffeehaus, das man eher in Berlin oder Wien erwarten würde. Die vielen Pflanzen und die kleine Voliere für Kanarienvögel machen das Kaffeehaus zu einem perfekten Ort für Slow Food, lange Gespräche und Lesestunden. An warmen Tagen kannst du dich übrigens auf die Sonnenterrasse setzen und von oben einen Blick auf das Herz des Wiesenviertels werfen. Und genau dort gehe ich als Nächstes hin.
Ein Hinterhof voller Musik und Kultur im Herzen des Wiesenviertels
Darin, wo das Wittener Wiesenviertel anfängt und aufhört, scheinen sich sogar die Wittener nicht immer ganz einig. Jedenfalls bekomme ich auf meinem Spaziergang durch die Nachbarschaft verschiedene Antworten. Ganz sicher gehört das Restaurant und Café Knut’s zum Mittelpunkt. 2012 eröffnete die Initiative Stellwerk die Anlaufstelle im Viertel, von wo sich nach und nach das gesamte Quartier mit verschiedensten kulturellen Projekten ausgebreitet hat.
Das Knut’s teilt sich einen Hinterhof mit dem [… raum]. Hier kommen Co-working, Küche und Konzerte zusammen. Ein Ort, den man von der Straße aus nicht sieht. Etwas, das man kennen muss. Joscha Denzel vom Verein Wiesenviertel e.V. nimmt mich mit. Zu Bierbänken und rankenden Pflanzen, zu Geplauder und emsigem Tippen auf Laptop-Tastaturen.
Am Ende des Hofs liegt das ROXI. Eine ehemalige Schreinerei aus Ziegelsteinen, die heute Konzertraum ist. „Wir haben regelmäßig Jazz, Neunziger Hip-Hop und Indie-Pop“, berichtet Joscha. „Die Leute wissen das inzwischen und kommen extra deswegen her.“
Nachdenklich, nachhaltig, 2nd Hand – grün und bunt
Gegenüber steht das neuste Projekt des Wiesenviertel-Vereins. Das Parklet. Eine Outdoor-Sitzecke aus Holz, in der Blumen wachsen. Jede:r ist eingeladen, mitzupflanzen. Jede:r kann sich hinsetzen. Das mache ich jetzt auch. Ich schaue auf den Brunnen mit den bunten Gießkannen. Gemütlich ist es hier. Klein, nachbarschaftlich, urig – aber auf keinen Fall spießig.
Hinter dem Brunnen liegt ein urbaner Garten. „Gemüsebeet, Treffpunkt, Futterplatz“, steht auf einem Schild. Der weitere Text macht darauf aufmerksam, dass unsere Lebensmittel nicht im Supermarktregal wachsen und wie viel sich vor der eigenen Haustür anbauen lässt. Das mag ich am Wiesenviertel. Es ist nicht überladen mit Kult, Kneipen und Szenegedöns, sondern lässt einen runterkommen, ausruhen und auch ein bisschen nachdenken: Wie wollen wir gemeinsam leben und arbeiten, essen und genießen? Und muss alles immer schnell sein, oder darf man auch mal eine Stunde lang in einem Parklet sitzen und auf einen kleinen Brunnen schauen?
Einfach mal anprobieren im Rosenrot
Zum Schluss mache ich noch einen Abstecher ins Rosenrot. Der 2nd Hand Klamotten-Laden wird von Mutter und Tochter geführt und ist so bunt wie ein Regenbogen. Kleider, Schmuck, Schuhe, Halstücher, goldene Bilderrahmen und Federn. Nicht altbacken, nicht mottig, sondern elegant, qualitätvoll und vielfältig. Ich bin persönlich schon seit vielen Jahren ein großer Fan von 2nd Hand Mode. Wieso immer mehr wegwerfen und neu produzieren, wenn es so viel Gutes bereits gibt? Wieso nicht mal etwas ausprobieren und anprobieren?
Lea vom Rosenrot lächelt. „Wir hatten letztens eine Kundin, die eigentlich einen Hosenanzug für eine Hochzeitsfeier gesucht hat. Wir haben ihr dann gesagt: Probier doch mal ein Tüll-Kleid aus.“ Zuerst war die Kundin skeptisch, doch in der gemütlichen Atmosphäre hat sie sich hinreißen lassen, das Kleid anzuprobieren. „Sie war total überrascht, wie gut es ihr stand und hat es am Ende mitgenommen. Sie meinte, jetzt hätten die Gäste auf der Feier was zum Staunen.“
Warum du mal im Wiesenviertel vorbeischauen solltest
Es sind kleine Momente wie diese, die im Wiesenviertel ganz groß sind. Ein Szeneviertel, in dem man selbst beim ersten Besuch das Gefühl bekommt, man sei schon einmal da gewesen und würde die Leute kennen. Ein Szeneviertel, das man ein bisschen suchen muss und das nicht laut schreiend auf einen zugelaufen kommt – was das Entdecken aber umso schöner macht.