Wir stehen vor der „kleinen Gruga“, dem Freilichtmuseum von Rot-Weiss Essen, als hinter uns ein Seat Ignis hält. „Wollense was wissen?“, fragt uns der Mann, der sich we-nig später als Roland Sauskat vorstellt – „Sauskat, vorne wie die Sau, hinten wie das Kartenspiel“. Meine Frau und ich erzählen von unserer Tour durchs Ruhrgebiet, von unserem Vorhaben, die Museen der Vereine zu besuchen und darüber einen Artikel zu schreiben. Mit Roland, mit dem wir uns nach wenigen Minuten duzen, landen wir schnell bei geschichtlichen Themen: In der Historie von RWE, in der vom Stadion an der Hafenstraße, aber auch in seiner eigenen. Wie er vom Jockey zum Sozialarbeiter wurde, wie er fast 30 Jahre für das Fan-Projekt der Essener arbeitete, wie er zum Fußball kam, „mit Onkel Willi, der in der Oberliga West spielte“.
In der Oberliga West bleiben wir hängen. Wir reden von Vereinen, die heute weit von der Erstklassigkeit entfernt sind: Von Schwarz-Weiß Essen, dem SV Sodingen, von der Westfalia aus Herne. Und von einem Verein, den es heute nicht mehr gibt: Die STV Horst-Emscher, dem Klub, für den Rolands Onkel Willi im Fürstenbergstadion am Ball war. „Das kann ich euch zeigen, ich biete eine historische Stadionführung an“, sagt Ro-land Sauskat. Dann tauschen wir Nummern aus und verabreden uns für den Montag in einer Woche.
But first: Stopp in der Kult-Kneipe
Am Sonntag reisen wir bereits an, denn wir wollen der 11 Freunde-Bar in Essen einen Besuch abstatten. Früher war die Kult-Kneipe regelmäßig mit dem „Fantalk“ im Fernsehen vertreten, an der Kunigundastraße hat sich seither einiges verändert: Die Kegelbahn bekam einen neuen Anstrich, die Speisekarte bietet nun auch Burger mit Rindfleisch von der Bio-Fleischerei Bernd Burchhardt.
„Wir sind froh, dass wir das gemacht haben, das war die richtige Entscheidung“, sagt Julika Demmer, die zusammen mit Alexander Mausfeld vor etwas mehr als zwei Jahren die Bar übernahm. Die Klassiker von früher sind aber nicht verschwunden, wer zum Fußball weiterhin Currywurst-Pommes-Schranke möchte, der bekommt auch weiterhin Currywurst-Pommes-Schranke zum Fußball. Beim Essen sehen einem die Weltmeister von 1954 und 1974 zu, deren Bilder neben unzähligen Wimpeln, Trikots und Schals an den Wänden hängen. Im Mittelpunkt steht aber der Live-Fußball, der auf zwei Flatscreens und zwei Leinwänden gezeigt wird.
Gut gestärkt geht’s auf den Stadionritt durch den Pott
Das „the niu Cobbles“ in Essen garantiert uns, dass wir bestens in den nächsten Tag starten: Wir haben in unserem Hotel im Süden der Stadt optimal geschlafen und perfekt gefrühstückt und verabschieden uns schweren Herzens von der fleißigen Pancake-Maschine.
Halt an der Ranch und Historisches am Stadion Gladbeck
Mit Roland Sauskat treffen wir uns vor dem Stadion an der Hafenstraße. Für die Heimat des Drittligisten bietet der ehemalige RWE-Fanbeauftragte ebenfalls Führungen an. Heute bringt uns Roland drei andere Spielstätten näher, die so gar nichts mit Klatschpappen und dem Arenen-Habitus zu tun haben: Das Stadion Gladbeck, das Fürstenbergstadion in Gelsenkirchen-Horst und das Uhlenkrugstadion in Essen.
Auf dem Weg zum Stadion Gladbeck fahren wir an einem unscheinbaren Haus vorbei. „Hier wurde der Georg Melches geboren“, erklärt unser Fremdenführer und erzählt von dem früheren RWE-Mäzen. Auf unserer Tour durch die Vergangenheit wird es nicht nur um Fußballorte gehen, sondern auch um Menschen, die diese Orte geprägt haben. Ein anderer Held der Essener Vereinsgeschichte wartet wenig später in Bottrop auf uns. Die Ranch von Willi „Ente“ Lippens hat zwar heute geschlossen – geöffnet ist nur donnerstags bis sonntags –, einen Abstecher ist sie trotzdem Wert, „allein aufgrund des Eingangstores, das finde ich super“, sagt Roland. Dass Willi nicht da ist, findet er dagegen gar nicht so schlecht: „Dann müssen wir uns wenigstens nicht wieder die Geschichte anhören, dass Berti Vogts immer Dünnschiss hatte, wenn er den Willi sah“, sagt Roland und lacht.
Keine zehn Minuten später kommen wir zum ersten offiziellen Ort unserer historischen Stadiontour: Dem Stadion Gladbeck. Für Roland trägt es noch immer den Namen, den es schon bei der Einweihung 1928 trug: Vestische Kampfbahn. Roland holt seine Moderationskarten aus der Tasche, als er mit uns durch das pompöse Eingangstor geht. Dann beginnt er zu erzählen: „Die Kampfbahn hat ein Fassungsvermögen von fast 38.000 Plätzen, davon fast alles Stehplätze“.
Dass der bis heute gültige Besucherrekord nichts mit Fußball zu tun hat, ist Roland sichtlich unangenehm: „Die meisten Menschen strömten ins Stadion, als Hitler im Juli 1932 eine Wahlkampfrede vor 50.000 Leuten hielt“. Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Vestische Kampfbahn häufig für politische Massenveranstaltungen genutzt, wie Roland erklärt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen die Zuschauerinnen und Zuschauer Zweitligafußball, als die Sportfreunde Gladbeck in der II. Division spielten. Erstligafußball gab es auch, die STV Horst-Emscher schlug in Gladbeck ihr Ausweichquartier auf, während das heimische Fürstenbergstadion umgebaut wurde.
Charmante Geschichten aus dem Fürstenbergstadion in Gelsenkirchen
Das soll auch unser nächstes Ziel sein, die Spielstätte der „Emscher Husaren“, das Wohnzimmer von Rolands Onkel Willi. Für das Fürstenbergstadion fahren wir eine gute Viertelstunde durch den Pott. Unzählige Graffiti an unzähligen Gebäuden senden Botschaften von einer Ultra-Gruppierung zur anderen, die wir ohne Rolands Übersetzungen nicht verstehen könnten.
Es gibt eine Floskel, die man bei Stadien wie dem Fürstenbergstadion häufig liest: Hier weht noch der Wind der Oberliga West. Bei unserem letzten Besuch in Gelsenkirchen-Horst traf das auch zu, aber in zehn Jahren kann viel passieren. Die weitläufige Stehtribüne, die markant ist für die Kampfbahnen jener Zeit, wie beispielsweise für das Stadion Rote Erde in Dortmund oder die Kampfbahn Glück Auf in Gelsenkirchen, wich einer zeitgemäßen Alternative. Für den Oberliga-West-Durchzug muss demnach Roland sorgen. Es sind nicht die Fakten, die er natürlich parat hat – Eröffnung des Stadions an Weihnachten 1920, Zuschauerrekord 32.000 beim Derby zwischen der STV Horst-Emscher und dem FC Schalke 04 Ende September 1958, Fassungsvermögen damals offiziell 25.000, heute 5.000 –, es sind die Geschichten, die in keinem Buch stehen: Als Heinz Flotho* mit seinem schwarz-blauen Porsche bei Althoff (später Karstadt) vorfuhr, um Rolands Mutter zu umgarnen, die mit 16 Jahren einerseits viel zu jung für die Torhüterlegende war, andererseits keinen Mann daten sollte, der schon verheiratet war.
Jetzt sind wir mittendrin, im Ruhrgebiet, in der Oberliga West, in einer Zeit, die heute genauso oft romantisiert wird wie unser nächster Halt: Die Zeche Nordstern. „Eines der bedeutendste Wahrzeichen des Ruhrbergbaus“ (nordsternturm.de), der Nordsternturm mit seinem markanten Herkules, liegt nur wenige Kilometer vom Fürstenbergstadion entfernt. Für 3 Euro pro Person fahren wir in dem Fahrstuhl nach oben und genießen den Rundumblick, sehen Ruhrgebietstypisches wie die früheren Bergbau-Siedlungen und rauchende Schornsteine, aber auch das Grün, das dem Ruhrpott so oft abgesprochen wird. Das Zuhause des FC Schalke 04, die Veltins-Arena, liegt direkt vor uns. Unser nächster Halt, wenn auch nur für eine Stippvisite, ist dagegen die Heimat der Knappen.
Glückauf in der gleichnamigen Kampfbahn
Der Weg zur 1928 mit einer Sportwoche eröffneten Kampfbahn Glückauf führt an den Bahnschienen entlang, Roland ist ihn als Kind unzählige Male gegangen. „Da hab ich oft geschwitzt, da lief der Kindermörder Jürgen Bartsch** noch frei herum“, erzählt Roland. Die Kampfbahn, die heute noch 5.000 Menschen Platz bietet und bis 1973 die Heimspielstätte des FC Schalke 04 war, erreichen wir innerhalb weniger Minuten. An dieser Stelle genügt uns ein schnelles Foto, denn wir kennen die Kampfbahn bereits von Olivier Kruschinskis Mythos-Tour, die nicht nur königsblauen Fußballfans ans Herz gelegt sei.
Kartoffeln in die Soße drücken & mehr „Dönekes“ in der Uhlengruft
Die Reise führt uns nun zurück in die Stadt, in der sie begonnen hat, allerdings in eine ganz andere Gegend. Wenn Roland von „Kartoffeln in die Soße drücken“ spricht, dann meint er den Essener Stadtteil Stadtwald, dann redet er von Schwarz-Weiß Essen. Mit zwei kurzen Ausnahmen spielte der Verein von 1951 bis zur Einführung der Bundesliga in der Oberliga West, das 1922 erbaute Uhlenkrugstadion sah sogar kurzzeitig Bundesliga-Fußball, als der Lokalrivale Rot-Weiss Essen (der erst nach dem Zweiten Weltkrieg an Schwarz-Weiß vorbeizog) 1970 für zwei Spiele in die „Uhlengruft“ umzog. Uhlengruft nennt Roland das Stadion, „weil hier nix los ist“ und weil die heute rund 10.000 Plätze (zu besten Zeiten 45.000, einmal gefüllt beim Länderspiel zwischen Deutschland und Luxemburg im Dezember 1951) im Essener Süden meist leer bleiben.
Fazit: Dringende Empfehlung!
Die historische Stadionführung mit Roland dauerte fünf Stunden, die 30 Euro, die wir ihm bezahlten, sind vermutlich für das Gros des Spritgeldes draufgegangen. Durch unseren Fußball-Reiseblog 11km.de haben wir zig Stadionführungen erlebt, insbesondere bei den Bundesligisten werden oft Guides angestellt, die in einem vorgegebenen Zeitfenster eine Fakten-Litanei herunterbeten, aber bei Fragen hilflos sind, die nicht im Skript auftauchen. Roland Sauskat ist kein Guide. Er nimmt sich die Zeit, die er sich nehmen möchte, er macht die Tour für zwei Menschen, er hat sie aber auch schon für einen ganzen Reisebus gemacht. Roland ist vorbereitet, auf Karteikarten stehen die Zahlen und Daten, aber die kann ich auch auf meinem Smartphone abrufen. Was ich dort nicht finde, sind die Geschichten von Tante Ursel und Onkel Willi, von den Fahrten mit der Straßenbahn zu den Spielen der Oberliga West, den Geschichten, die man sonst nur von der Selterbude kennt.
Jochen Schweizer bietet auf seiner Seite derzeit 36 Events zum Thema Fußball an. Wenn Du ein wirklich individuelles Ereignis verschenken willst, ruf lieber bei Roland Sauskat an.
*Heinz Flotho, ehemaliger dt. Fußballnationalspieler, u.a. bei den Emscherhusaren und FC Schalke 04.
**Die Geschichte von Jürgen Bartsch lässt sich googlen.