Alle Augen, jeder Mensch sieht anders; nimmt anders wahr und beurteilt anders. So schauen auch ganz sicher Heike und ich durch unterschiedliche Brillen, auf jeden Fall schon rein beruflich. Wir beide starten ein Experiment. Ein harmloses Experiment, aber ein interessantes. Ein Experiment, das mit Kultur zu tun hat: Wir besuchen jeweils dasselbe Museum und dieselbe Theaterinszenierung. Doch wir tauschen uns kaum aus, schreiben unsere individuellen Erlebnisse jeweils getrennt voneinander auf und stellen sie hier gegenüber. Wie unterschiedlich können die Erzählungen sein?
Lichtblick für Frauke
Ich war an einem Adventssonntag im Zentrum für internationale Lichtkunst Unna – einem der 21 RuhrKunstMuseen; zwar wegen der Gruppenführung nicht alleine, aber ohne Heike. Es war mein zweiter Besuch innerhalb von zwei Jahren in der ehemaligen Lindenbrauerei. Daher waren mir noch einige Sammlungswerke in guter Erinnerung, wie Mischa Kuballs „Space-Speech-Speed“ (2001) oder Keith Sonniers „Tunnel of Tears“ (2002). Da die Dauerausstellung auch immer ein paar Räume unter Verschluss hält, kam ich dieses Jahr erstmalig in den Genuss von Rebecca Horns „Lotusschatten“ (2006).
Absolut begeistert hat mich aber das unscheinbare, filigrane und zugleich bezaubernde Werk von Raika Dittmann: CHAORDISCH ist ein vergleichsweise junges Werk von 2016 und wie ein Mobilé aufgebaut. Die lichtdurchlässigen Objekte und Kupferdrähte werfen mittels Spot-Ons Schatten auf die Wand. Die Abbilder erinnern an Kaleidoskop-artige Regentropfen.
Fraukes Faszination für Licht
Die aktuelle Sonderausstellung „Faszination Licht“ feiert das 20jährige Jubiläum des weltweit ersten und bisher einzigen Museum für Lichtkunst. Sie umfasst drei Werke – also „Klein aber fein“ so zu sagen. Wobei, so klein waren die einzelnen Arbeiten gar nicht! Gleich zu Beginn begeistert „Spectrum (Frame Version)“, ein Regenbogen-Tunnel aus angeblich 20 rechteckig angeordneten Neonröhren (ich hab 14 gezählt). Die Rahmen reihen sich in gleichbleibenden Abständen hintereinander auf. Sie schweben im Raum und man kann zwischen den Farbspektren hindurchschreiten („Nur nicht drüber springen“, so die Gruppenleiterin und Kunsthistorikerin). Steht man mittig vor den LED-Leuchten, greift die Zentralperspektive und der Fluchtpunkt zieht einen ins bunte Raster hinein. Guckt man von der Seite, so erinnert das Gebilde an die Regenbogenspirale, die viele aus der Kindheit kennen – nur eben eckig.
Im Zwischenraum der Kellergewölbe betritt man einen Dark Room par excellence! Darin befindet sich an einem Ende eine Rauminstallation „Plane Scape“ der Künstler*innen Wolfgang Bittner, Lyndsey Housden, Yoko Seyama und Jereon Uyttendaele. Die Gruppenarbeit ist immersiv (ein beliebtes Wort im aktuellen Kunstdiskurs: mit allen Sinnen erfahrbar): Dünne, vertikal angerichtete Gummibänder spannen ein löchriges Labyrinth, das in der Dunkelheit kaum zu sehen ist. Die begleitende Sechs-Kanal-Ton Komposition lässt minimale Lichtquellen durch die Installation wandern. Es werden Assoziationen von Vogelschwärmen, Monsun und Matrix frei. Zieht man die Schuhe aus, darf man das Konstrukt sogar betreten. Vorsichtig tastete ich meinen Weg durch die Vertikalen. Durch die vorbeirauschenden Lichtpunkte verlor ich ein bisschen das Gefühl für Oben und Unten.
Im letzten Raum hat die Künstlerin Adela Andea in absoluter Feinarbeit eine filigrane Installation an den Wänden der Lindenbrauerei befestigt. Dünne, farbige Neonröhren schlängeln sich über die Wand, überkreuzen sich und scheinen in den Ecken zu schweben. Darunter bunte Körper aus Schaumstoff-Ringen. Von Nahem entdeckt man allerhand Details und unterschiedliche Materialien. Von Weitem wirkt „Chaos Incarnate“ wie eine riesige, bunte Gewitterwolke.
Fraukes Light Experience
Alle Werke sind echte Hingucker und wirken auf den Fotos fast noch besser als in Echt. Kein Wunder, dass so viele mit Kamera hierhin kommen. Leider hatte das für unsere Guide wohl zum Anschein, dass wenig Interesse an Informationen vorlag – mir fehlten hier und da ein bisschen die kunsthistorischen Bezüge. Aber vielleicht braucht es das bei Lichtkunst auch gar nicht unbedingt und Nachfragen konnte man natürlich immer. Das Haus empfiehlt zudem ausdrücklich die Fotoführungen, um mit viel Zeit verschiedene Einstellungen auszuprobieren. Vielleicht beim nächsten Mal?
„Hippieh – ya – Hey“ – Heike im Farbrausch
20 Jahre gibt es das Zentrum für internationale Lichtkunst in Unna schon, und genauso lange ist es circa her, seitdem ich zum ersten und bislang letzten Mal da war (auf jeden Fall war es während der ExtraSchicht). Grund genug also, mal wieder einen Fuß über die Kellerschwelle zu setzen. Zumal die aktuelle Wechselausstellung, die anlässlich des Jubiläums gezeigt wird, einen echten Farbrausch verspricht. Und da ich sowieso großer Fan von Lichtinstallationen und Lichtkunst bin, begebe ich mich eine Woche später als Frauke auf die Reise nach Unna.
Klein aber oho
Im Rahmen einer – zum Glück – Kleingruppenführung durchlaufe ich zunächst Teile der Dauerausstellung (auch das lohnt sich schon), zum Beispiel über die Installation von Joseph Kosuth einem Vertreter der Konzeptkunst der 70er Jahre, die ein Gedicht von Heinrich Heine thematisiert, das am Boden eines Raumes „installiert“ ist. Wir laufen darüber in einer Zick-Zack-Brücke und sehen immer nur Ausschnitte. Da das Museum in den Kellerräumen der ehemaligen Lindenbrauerei beheimatet ist, tun die hohen Kellerräume ihr Übriges zur Wirkung der Kunst-Installationen.
Heikes Faszination für Licht
Unsere Kunstvermittlerin führt uns dann zügig in die Wechselausstellungsräume, in denen wir Zeit genug zum Staunen (und Bilder machen) haben! Der erste Raum mit der Installation Spectrum (Frame Version) von Olivier Ratsi zieht mich sofort in seinen Bann. Ich fühle mich ein wenig wie damals im Kunstunterricht, als wir perspektivisch mit Fluchtpunkt zeichnen geübt haben ;-). Die 20 (sollen es sein) in Reihe gehängten LED-Rahmen suggerieren eine Tiefe im Raum und durch die Farbwechsel entsteht eine besondere Schwingung. Ein schönes 70er Jahre Gefühl entsteht – Rausch ohne Suchtmittel quasi.
Vertikaler Gummitwist im Dunkeln
Im zweiten Raum finden wir einen begehbaren Wald aus tausenden weißen Gummibändern vor. Auf diese wird das Bild einer sich bewegenden, abstrakten Landschaft projiziert. Die Installation betrete ich ohne Schuhe und fühle mich wie in einem Irrgarten. Man muss aber nicht hineingehen, um Plane Scape zu erleben. Die knapp 40minütige Abfolge von Bildern lässt sich auch von außen gut erleben! Dennoch empfehle ich die Betreten-Erfahrung, denn das Erlebnis ist in jedem Fall besonders!
Liebling(s)-Chaos
Mein persönlicher „Flasher“ ist allerdings der dritte Raum der „Faszination Licht“-Ausstellung. Hier fühle ich mich sofort „heimisch“, denn die Installation heißt „Chaos Incarnate“ – Farbe, Licht, Material – alles verrückt und chaotisch angeordnet an Wänden, Decke und Boden, fast wie ein „Mauerschwamm“ nur natürlich nicht so unsympathisch. Ein wenig erinnert die Installation der texanischen Lichtkünstlerin Adela Andea aber auch an Unterwasserwelten und Korallenriffe. Die Materialien sind ein „bunter“ Mix aus Elektronikbauteilen, Leuchtröhren, Kunststoff – sind es aufgeschnittene Poolnudeln? – irgendwie wahnsinnig, hauptsächlich aber sehr psychedelisch und absolut cool!
Heikes strahlendes Erlebnis
Schon allein wegen der Wechselausstellung lohnt sich die Visite im Unnaer Zentrum für Internationale Lichtkunst! Aber auch die Dauerausstellung gibt so einiges an mega Impressionen her – und richtig gute Hintergrundinfos bekommt Ihr auf der 90minütigen Führung auch – danke an dieser Stelle an unsere engagierte Vermittlerin! Die Zeit verfliegt und ein neuerlicher Besuch wird sicher nicht erst wieder in 20 Jahren stattfinden!
Hippie-Groove beim Yesterdate
Flower-Power-Love & Peace Stimmung nicht nur in Unna, auch im Essener Aalto Theater, dessen organische Architektur mir sehr gefällt! Hier geht es groovy zu. Denn hier haben Frauke und ich unser „Yesterdate“ in gleichnamiger Musical-Revue von Heribert Feckler und Marie-Helen Joël. In dem zweieinhalbstündigen Stück lebt die Musik der Swinging Sixties wieder auf. Ich bin große Liebhaberin der Austin-Powers-Filme und mit den Beatles Platten meiner Eltern aufgewachsen – bekomme also bei allem, was aus dieser Zeit stammt, schon ein leichtes Glitzern in den Augen! Wir lassen es aber langsam angehen und starten bei Pottsalat um die Ecke mit einer „leichten“ Bowl (eine reicht eigentlich für 2 Personen). Die Potties von Pottsalat haben ihren Laden an sich nicht für den Verzehr vor Ort ausgelegt, wir trotzen aber den frischen Temperaturen und nehmen dick eingemummelt, aber dennoch mit einem Kaltgetränk, draußen Platz und vernaschen unsere köstlichen Bowls direkt vor dem Laden.
„Very psychedelic“ im Aalto Theater in Essen – Heikes Perspektive
Köstlich – so gestärkt betreten wir das Aalto-Theater, eines von elf RuhrBühnen, und lassen uns auf ein „Yesterdate“ ein. Die Story dreht sich um das letzte Konzert der Beatles auf ihrer Bravo Blitz Tournee in Essen und um die Band, die ein paar Beatles-Fans damals gründeten und deren Revival-Auftritt nun ansteht. Sehr nice: in einem im 60er Jahre Stil eingerichteten Apartment treffen sich die fünf ehemaligen Bandmitglieder, um ihren Auftritt zu planen. Dabei wird viel gesungen und in Erinnerungen an damals geschwelgt. Einige Mitlieder*innen der Band verfügen über eine derartige Stimmgewalt, dass ich sofort die Vibes der 60er Jahre spüren kann. Und auch die Hintergrundgeschichten um die Einzelpersonen lassen uns rätseln, schmunzeln und lachen.
Mitsingen erwünscht!
Die Songs kann ich durch die Bank mitsingen und finde das toll – obwohl das Stück durchaus eine Mischung aus Musical und Operette für mich ist und ich das an sich nicht so sehr mag. Hier aber sind die Lieder einfach so wunderbar und die Story dadurch so kurzweilig, dass ich mich gern drauf einlasse! Auch wenn ich zunächst der Meinung war, dass das Aalto Theater und das Stück nicht zusammenpassen, ändert sich dies im Laufe der Darbietung, weil die organische Formensprache des Baus und das hippiemässige Feeling des Stücks eben einfach doch sehr gut „matchen“!
Heike likes
Ich will nicht zu viel Handlung vorweg nehmen, aber: Als Zuschauerin s(w)inge ich mit und fühle mich sehr wohl, auch wenn die Story in meinen Augen noch die ein oder andere „Auflösung“ oder mehr Details hätte bieten können. Insgesamt war es ein sehr runder Abend, für alle Menschen mit 60er und 70er Jahre Bezug also eine absolute Empfehlung!
Flower Power Frauke
Endlich wieder mehr Theater! Einfach an sich schon ein Event, im Aalto-Bau in Essen zu stehen. Innen und Außen überwiegt Weiß – ein starker Kontrast zum Nachthimmel wie auch der deutschen Fashion-Vorliebe für Schwarz. Einen Kontrast bildet auch der Bühnenraum; hier überwiegt ein Blau à la Yves Klein. Wie mich Heike auf unseren Sitzplätzen aufklärt, ist der Architekt auch für ein bestimmtes Design von Blumenvasen bekannt. Dieser Form ist er bei den Rang-Balkonen treu geblieben. Flower-Power heißt es dann auch auf der Bühne:
Flashback in die Hippie-Zeit
Eingeleitet wird das Stück mit projizierten Schwarz-Weiß-Fotografien (irgendwie ist das aktuell wohl angesagt in der Theaterwelt): Hippies mit Gitarre auf einer Wiese, Protestzüge gegen Atomwaffen, Schilder gegen den Vietnam-Krieg. Alles Dias, die sich die Protagonist*innen gemeinsam bei Bärbel und Lutz anschauen. Deren Wohnungseinrichtung ist zwar in den 60er Jahren hängen geblieben, doch im Leben hat man sich nach dem gutbürgerlichen Oberarzt-Stil eingerichtet. Auch Kenneth hat gut geerbt – von dem Luxus eines Londoner Ladens kann er sich nicht wirklich trennen. Die Freunde, welche u.a. 1969 Woodstock miterlebten, schwelgen in Erinnerungen.
Ihr VW-Bus hieß Yellow Submarine, die Band „Dropping Soft Ice” (richtig, nicht dripping; ob ein Witz oder mangelnde Englischkenntnisse wird nicht aufgeklärt). Bei der Planung eines Auftritts in den 90ern stimmen sie Songs aus ihrer Jugend an. Die Lyrics fügen sich gekonnt in den Dialog ein. Doch als Gunda mit ihrem Sohn Alexander auftaucht, kommt auch ein jahrelang gehütetes Geheimnis zum Vorschein…
Wunscherfüllung kurz vor Weihnachten
Die Musik ist toll! Ich bin erstaunt, wie viele Lieder ich kenne. Permanent singt irgendwer im Publikum mit, und das ist voll okay. Als Brigitte Oelke „Son of a Preacher Man“ anstimmt, hat sie die volle Aufmerksamkeit im Raum – stimmlich einfach top!
Die Selbsteinschätzung der anderen ist gesund: „Gönnen Sie sich in der Pause einen Drink. Denn je mehr sie trinken, desto besser klingen wir!“ Gesagt, getan; bei einem Glas Wein meine ich zu Heike: „Livemusik wäre schön!“
Fraukes zweiter Akt
Noch nie wurde mein Wunsch so schnell erfüllt: Im zweiten Teil steht eine Band auf der Bühne. Es findet offensichtlich das Benefizkonzert statt. Song reiht sich an Song, die damalige Mode zeigt sich in all ihren bunten, absurden und schönen Facetten. Das Highlight – aber auch leider die einzige Wiederaufnahme der Storyline – ist Thomas Hohlers und Henrik Wagers „Father and Son“. Die beiden überzeugen sowohl stimmlich als auch schauspielerisch. Mit Konfetti und Ballons kündigt sich das Partyende an.
Don’t loose the Groove – Fraukes Fazit
Das Stück ist eine musikalische Reise in die 60er und macht einfach nur Spaß! Das Publikum hat sich anstecken lassen. Bei den meisten werden wohl bei den Songs eigene Erinnerungen geweckt. Bei mir (mit meinen zarten 30 Jahren) eher weniger. Doch ich liebe diese Zeit – vor allem politisch! Leider hat mir das ein bisschen gefehlt; die Auflehnung gegen die Elterngeneration, die Studierendenbewegungen, der Kalte Krieg und das Aufkommen des Naturschutzes. Die Zeit lebte auf der Bühne vor allem durch Musik, Design und Mode auf. Das aber sehr gekonnt! Seit Freitag habe ich zuhause Lieder aus den 60ern laufen. Leider nicht auf Vinyl, sondern auf dem Handy … mit Bluetoothbox … über Spotify. Willkommen zurück in den 20s – im zweiten Millennium. 😉
Ein Artikel von Frauke-Maria Petry, die bis Januar 2022 bei Ruhr Tourismus im Bereich Kulturmarketing gearbeitet hat.
Bildnachweise:
Foto: Keith Sonnier, Tears of Tunnel, 2002 © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Mischa Kuball, Space – Speech – Speed, 2001 © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Raika Dittmann, Chaordisch, 2016 © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Olivier Ratsi, Spectrum (Frame Version) © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Adela Andea, Chaos Incarnate, 2021 © Künstler*innen/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Gruppenarbeit (s. Text), Plane Scape, 2012/21 © Künstlerin/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Joseph Kosuth, Die Signatur des Wortes, 2001 © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Rebecca Horn, Lotusschatten, 2006 © Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/ RTG
Foto: Bruce Nauman, The True Artist Helps The World (c) Künstler/Zentrum für internationale Lichtkunst/RTG
Alle Yesterdate-Inszenierungs-Bilder © Matthias Jung